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Hinrich JW Schueler - "Living in a Ghosttown"

Ruinen und Ghosttowns üben seit langem eine starke Faszination auf mich aus: das Unheimelige, Abgelebte, Aufgegebene, Verfallene, Verlassene war und ist eine Inspirationsquelle für mich als Künstler, als fotografierender Maler, Zeichner und Schreiber. Oft stöbere ich in verfallenen Häusern und Hallen umher, um Objekte, Spuren des alten Lebens zu finden. Wie haben die Menschen hier gelebt? Was waren ihre Träume, Wünsche, Absichten, was war ihr Alltag? Wann und warum wurde das aufgegeben, was mal Heimat oder  Werkstätte war?

Das Atmosphärische der verlassenen Orte interessiert und berührt mich in vielfacher Hinsicht. So zum Beispiel Cisco Ghosttown in Utah, die wohl berühmteste Ghosttown der USA, bekannt aus den Filmen “Thelma & Louise”, “Vanishing Point”, “Don’t Come Knocking” und natürlich aus dem Johnny Cash Song “Cisco Clifton’s Filling Station”. Ein seltsamer Ort, kein Mensch war hier anzutreffen bei meinem letzten Besuch September 2015, heiß brütende Windstille, kein Laut zu hören. Menschenleere. Oder? Plötzlich entdecke ich nagelneue Briefkästen und Stromzähler an den fast eingestürzten Häusern und Baracken. Spooky. Beim Fotografieren fühle ich mich beobachtet. Eine Tür knarrt, Eidechsen huschen vorüber, in der Ferne flimmern die farbenfrohen Book Cliffs. Wer hier keine Ideen für Songs, Bilder, Filme bekommt, ist kein Künstler. Ich habe sofort ein Dutzend Filmideen. Genre „Endzeit-Schocker“. In der windstill gärenden Luft quietscht unvermittelt ein Fensterladen… Nichts wie weg hier.

Darüberhinaus gibt es auch wiederbewohnte Ghosttowns, wie zum Beispiel Terlingua im Big Bend National Park an der Grenze Texas/Mexiko. Eine faszinierende Mixtur aus Bergbauruinenstadt (früher Quecksilberabbau für Granatenzünder) und neuem Leben in renovierten alten Gebäuden (seit den 60er Jahren).

Ganz anders wiederum, da weit abseits aller Lebensadern, wirken australische Ruinen und Ghosttowns. Noch intensiver, einsamer, unheimeliger sind sie in ihrer Ausstrahlung als die oben erwähnten Orte in den USA.

Mit den “living in a ghosttown-Bildern”, ausgeführt in meiner POPOC-Technik (painting over photography on canvas/Acrylfarben über Foto auf Leinwand), bilde ich nicht nur das Gesehene und Fotografierte ab, sondern ich erweitere dieses um das von mir Erlebte, um das wahrgenommene Atmosphärische.

Ausgangspunkt meiner Arbeiten sind jeweils analoge Dia-Aufnahmen, entstanden auf vielen meiner Reisen in entlegene Weltwinkel, Skurrilitäten, meist gefunden auf Nebenstrecken von Nebenstrecken. Die „living in a ghosttown-POPOCs“ haben somit immer persönliche Erlebnisse zum Anlass. Gelegentlich sind auch zwei oder drei Dias vor dem Scannen mit einem Skalpell zugeschnitten und dann übereinander geklebt worden, der Effekt ist ähnlich dem einer Doppelbelichtung. Und teilweise werden die Dias mit kleinsten Pinseln bereits übermalt vor dem Scannen.

Meine Übermalungen sind immer auch Interpretation des jeweiligen Fotos und Zufügungen von „auratischen Elementen“, die erfunden oder bereits auf dem Foto bereits angelegt waren und später malerisch verdeutlicht oder akzentuiert werden (z. Bsp. der Rostregen über dem alten Schulbus). Aus dieser Addition entsteht Neues, was weit über das zugrundeliegende Foto hinausgeht: die Räumlichkeit verändert sich durch die malerischen Eingriffe, das Licht oder die Beleuchtung wird unwirklicher, unheimeliger, die Schärfen und Unschärfen des Fotos werden verändert, die Ghosttown-Atmosphäre wird durch das POPOC-Verfahren realer, gegenwärtiger als das Foto allein es vermitteln könnte. Das Foto erhält so, verwandelt und veredelt durch die Malerei, eine neue Bedeutung und Wertigkeit.

Photoshop und ähnliche Programme verwende ich NICHT, um den üblichen Programm-Masken und Filtern zu entgehen, die schon millionenfach verwendet wurden. Durch die flächendeckende malerische Überarbeitung an den gescannten und auf Leinwand ausgedruckten Dias entstehen völlig neue Bilder, zeigen sich nicht vorhersagbare Ergebnisse. Dem gesteuerten Zufall, dem Spielerischen, Assoziativen wird hier viel Raum gegeben. Alle „living in a ghosttown-POPOCs“ sind selbstverständlich Unikate.

Abschließend noch einige philosophische Aspekte. Bereits in der Romantik wurde die Ästhetik von Ruinen als Kunst-Objekte entdeckt; - ja, es wurden sogar künstliche klassische oder gotische Ruinen erbaut in Schlossgärten (z. Bsp. Schwetzingen). In der postindustriellen Gesellschaft spielt die Ästhetik des Verfalls eine große Rolle in Malerei und Photographie, millionenfach werden alte Industriedenkmäler als Besonderheit rezipiert (z. Bsp. Henrichshütte Hattingen).

Die Philosophie untersucht bereits seit langem diese „Ruinen-Liebe“. Meist werden dabei Begriffe wie „Zivilisationsmüdigkeit“, „Kulturskepsis“, „apokalyptisches Endzeitbewusstsein“ bemüht. Das Vanitasmoment (momento mori - Gedenke deiner Endlichkeit) der Ruinen spielt hierbei eine zusätzliche Rolle, dabei ist es egal, ob das Wissen um die (eigene) Vergänglichkeit bewusst oder unbewusst erlebt wird. Dennoch werden auch nichtskeptische Menschen von Ruinen angezogen – sei es aus Neugier, kulturellem Interesse oder einfach ästhetischer Lust.

Vergänglichkeit heißt immer auch – und in besonders in unserer Zeit – Vergänglichkeit analoger Technik. Gerade im Rahmen der allgegenwärtigen Digitalisierung unserer Umwelt droht die Gefahr, dass bewährte analoge Technik ihren Rang verliert – und damit unsere Zivilisation verarmt. Phänomen wie die fröhliche Wiederauferstehung des Schallplattenspielers zeigen allerdings, wie diese Entwicklung sich durchaus umkehren kann, wenn man sich eben der besonderen Qualitäten der analogen Technikwelten (wieder) bewusst wird. Nicht nur aus Nostalgie, sondern wegen der besonderen Farb-, licht- und Schärfeneigenschaften habe ich bisher ausschließlich mit analogem Diamaterial gearbeitet. Diese Möglichkeit ist leider fortschrittsbedingt zu Ende gekommen Anfang 2017. Aber vielleicht wird das analoge Dia auch irgendwann wiederentdeckt werden. Ich freu mich drauf. Bis dahin werde ich nur die Dias aus meinem Archiv für die POPOCs verwenden können.
 
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